Die lang geplante
Brentaetappe beginnt ganz ordinär auf langweiligen Nebenwegen. Erst
kurz vorm Lago di Tovel am Nordende der Brentagruppe wird
die Landschaft felsiger und dolomitenartig (aber nur rein optisch, die
eigentlichen Dolomiten beginnen östlich des Etschtals, während
unsere Tour komplett westlich dieses großen Alpeneinschnitts entlang führt).
Am See angekommen stürmen wir das erst beste Gasthaus, denn etwas
zu essen haben wir jetzt bitter nötig. Dass wir um diese Zeit (es
ist elf Uhr) nur ein kleines Vesper bekommen, ist uns egal - Hauptsache
was zu beißen. Ich lasse mir vom Kellner (der eigentlich eine Kellnerin
ist, wie wir erst mit einiger Verspätung feststellen) ein Telefonbuch
bringen und suche die Nummer vom Rifugio Graffer unterhalb des Passo del
Groste, wo wir heute übernachten wollen, raus. Doch das Pech scheint
auf unserer Seite: Die Hütte ist komplett ausgebucht.
Ich könnte mir in den Arsch beißen. Hätte ich doch bloß früher
angerufen! Ich habe absolut kein Bock, schon wieder im Tal zu übernachten.
Wir halten Krisenrat. Ein Blick in die Karte bringt schließlich die Lösung:
Wir können am Rifugio Graffer auf einen Singletrail einbiegen, der
uns durch das Vallesinella zum Rifugio Vallesinella bringt. Dort würden
wir morgen eh vorbei kommen und vielleicht haben die ja noch was frei.
Diesmal ist Matthias mit telefonieren dran und hat prompt Glück,
denn im Vallesinella haben sie tatsächlich noch Platz für uns.
Hochmotiviert fahren wir deshalb weiter. Mit dem Passo del Groste ist
es das allerdings so eine Sache. Viele Transalpler fahren ihn in die andere
Richtung als wir es tun und nehmen den einfachen Schotterweg von Madonna
hoch. So empfiehlt es auch Transalppapst Uli Stanciu in seinem Buch "Traumtouren
Transalp". Dort heißt es sinngemäß, dass der Weg über den Pass
vom Lago di Tovel her, so wie wir die Sache angehen, nur etwas für
Hartgesottene ist.
Wir haben uns trotz den Warnungen für die harte Variante entschieden.
Erstens haben wir so die tolle Abfahrt zum Rifugio Vallesinella nach der
Überquerung des Passes und zweitens durchquert so unsere Route die
Brenta einmal komplett von Nord nach Süd.
Schnell merken wir jedoch, dass es heute nun wirklich ans Eingemachte
geht. Als der Schotterweg nach einer halben Stunde plötzlich endet,
gets the going tough. Weiter geht es nämlich auf einem steilen und
total verblockten Wandersteig. Wir müssen vom Rad und beginnen zu
schieben. Nach ein paar Metern wird es so schwierig, dass wir das Rad
gar schultern müssen. Zu allem Überfluss brennt auch noch die
Sonne und die Orientierung ist sowieso nicht leicht. Wegmarkierungen sind
spärlich und missverständlich, gar nicht ausgeschriebene Pfade
dafür umso häufiger. Wir fragen einen italienischen Wanderer,
der sich auszukennen scheint und folgen seinen Beschreibungen.
Nach einer Stunde schieben erreichen wir eine grasbewachsene Hochebene,
auf der der Weg unvermittelt endet. Zuerst frustriertes, dann verzweifeltes
Suchen bringt nichts: Wir können weder einen weiterführenden
Pfad, noch eine Wegmarkierung ausmachen. Deshalb machen wir uns schon
mit dem Gedanken vertraut, den Rückzug anzutreten und weiter unten
im Tal nach einem anderen Abzweig hinauf in Brentafelsen zu suchen, als
wir 20 Meter weiter nach einer viertel Stunde plötzlich doch eine
Wegmarkierung auf einem Steinblock mitten in der Wiese entdecken. Noch
mal zwanzig Meter weiter die nächste. So geht das eine halbe Stunde,
bis wir schließlich wieder auf einen Wandersteig treffen. Was natürlich
nicht heißt, dass die Sache nun einfacher wird. Mit dem Bike auf der Schulter
quälen wir uns Meter um Meter weiter. Selbst beim Fotografieren geben
wir uns jetzt, total ausgelaugt, keine Mühe mehr. Wir posieren nicht
mehr für die Fotos, sondern halten einfach nur noch auf die umliegenden
Berge, um diese grandiose
Landschaft zu dokumentieren.
Während wir so vor uns hinstapfen, sind wir die ganze Zeit unsicher,
ob wir überhaupt auf dem richtigen Weg sind. Die Kompasskarte hilft
uns nicht viel weiter und wo sich die Passhöhe befindet, kann man
beim Blick auf die felsigen Berghänge auch nicht erahnen.
Als wir ein grün bewachsenes Hochtal durchquert haben und nun nahe
vor majestätischen Felswänden stehen, plötzlich ein Wegweiser.
"Passo del Groste" steht darauf. Also doch richtig. Der Weg wird nun noch
steiler. Meine beiden Trinkflaschen sind leer. "Hast Du noch was?" frage
ich Matthias. Nein, natürlich nicht. Ihm geht's genauso. Meine rechte
Schuler, auf der ich die ganze Zeit das Rad trage, schmerzt und die Beine
fühlen sich total zittrig an.
Nach vielleicht drei Stunden Gewürge haben wir endlich den Passo
del Groste (2.500 m) erreicht. Zugegeben, diese Kraxelei war echt
mehr als anstrengend, aber dafür gehörte die Landschaft während
des Aufstiegs zum Beeindruckensten, was ich auf meinen Alpentouren bisher
zu Gesicht bekommen habe. Am Pass
als solchem dagegen herrscht eher eine gespenstische Atmosphäre.
Von Madonna di Campiglio führt eine Seilbahn herauf und die Hänge
sind zu Geröllwüsten planiert. Obwohl ich selbst das Skifahren
liebe, bin ich über Skigebiete ohne Schnee und Skifahrer immer wieder
entsetzt.
Im Rifugio Graffer (2.261 m) kehren wir ein und füllen mit
Apfelschorle und Magnum unseren Zuckerhaushalt wieder auf. Auf Nachfrage
beim Hüttenwirt erfahre ich, dass wir doch noch die zwei letzten
Plätze im überfüllten Hüttenlager bekommen könnten.
Aber Matthias überzeugt mich davon, doch wie (um)geplant heute bis
zum Rifugio Vallesinella (1.550 m) hinab zu fahren. Das Rifugio Graffer
ist ziemlich auf Tourismus-Betrieb ausgelegt, was uns nicht so ganz in
den Abenteurer-Kram passt und außerdem hat sich hier schon eine andere
Gruppe Transalpler breitgemacht, die uns nicht sonderlich sympathisch
erscheint.
Es geht also hinab durch die atemberaubende Landschaft der Brenta. Der
Singletrail ist eng und schnell merke ich, dass wir es hier mit der schwierigsten
Abfahrt der Tour zu tun haben. Während rechts unten die Dächer
von Madonna zu erkennen sind, erheben sich links zwischen einzelnen Wolkenfetzen
die dolomitischen Felstürme aus den grünen Wiesen heraus. Nach
300 Höhenmetern legt sich Matthias ab - sein Ellenbogen ist aufgerissen
und Blut läuft am Unterarm hinunter. Aber er beißt auf die Zähne
- jammern würde jetzt eh nichts bringen.
Weiter unten führt der Weg durch eine enge und von Wasserfällen
durchzogene Klamm hindurch. Hier müssen wir mal wieder schieben.
Eine italienische Wanderin fragt mich nach dem Sinn dieser Unternehmung.
Ich ignoriere ihre Frage, denn ich will nach nun über 2.000 Höhenmeter
und mehreren Stunden Schieben und Tragen nur noch das Etappenziel
erreichen.
Das Rifugio Vallesinella stellt sich, verglichen mit dem Rifugio
Graffer, als die richtige Wahl heraus. Die Wirtsleute sind nett, unser
Doppelzimmer ist voll in Ordnung und nach jeweils zwei Portionen Abendessen
sind wir schließlich sogar satt. |
Malé
738 m
Cles
658 m
Lago di Tovel
1.177m
Passo del Groste
2.500m
Rifugio Graffer
2.261 m
Rifugio Vallesinella 1.550 m
|